Wahn

Thema des Monats Oktober 2012

Wahn ist die krankhaft entstandene Fehlbeurteilung der Realität.
An dieser Fehlbeurteilung wird mit absoluter Gewissheit und unkorrigierbar festgehalten, selbst wenn sie im Widerspruch zur Wirklichkeit, zur eigenen Lebenserfahrung und zum Urteil gesunder Mitmenschen steht. Für den Wahnkranken ist seine Wirklichkeit unerschütterlich und unanfechtbar. Dabei kann er in seinem übrigen Denken sogar folgerichtig urteilen.

Man kann verschiedene Formen des Wahnerlebens beobachten:

Wahnstimmung: Alarmstimmung, alles  ist so unheimlich, bedrohlich, sonderbar, „es liegt etwas in der Luft“, aber was? Die Folge sind: Angst, Argwohn, Misstrauen, Verunsicherung, Ratlosigkeit, Bedrohungsgefühle usw. Vielleicht aber auch Gehobenheit, Beseligung, Zuversicht. Kurz: Es ist etwas los. Meist im Vorfeld wahnhaften Erlebens.

Wahneinfall: plötzlich auftauchende wahnhafte Überzeugung, Eingebung, Erleuchtung. Beispiele: Verfolgung, Beeinträchtigung, aber auch Berufung, Erhöhung usw.

Wahngedanken: gedanklich nur mit dem Wahn befasst, also wahnhaftes Grübeln, Verknüpfen, Erklären usw.

Wahnwahrnehmung: reale Wahrnehmung aus alltäglichen Vorkommnissen erhalten eine andere, für den Betroffenen wirklichkeitsgerecht erscheinende, für den gesunden Beobachter krankhafte Bedeutung. Beispiele: eine Bemerkung, ein Gespräch, eine Geste, ein Artikel, eine Radio- oder Fernsehsendung hat plötzlich eine spezifische Bedeutung für den Patienten (Zeichen, Hinweis, Warnung, Aufforderung).

Wahnarbeit: Der Wahn wird durch weitere Symptome bewiesen, begründet, abgeleitet, ausgestaltet, kurz: bearbeitet.

Wahnerinnerungen: Die Vergangenheit wird rückwirkend wahnhaft umgedeutet.

Wahnsystem: systematischer Ausbau eines regelrechten Wahnsystems.

Wahndynamik: gemütsmäßige Aspekte des Wahngeschehens, von „innerlich leer“ bis „starke Gemütswallungen“.

Die ratlosen Gesunden im Umfeld des Wahnkranken müssen erkennen, dass die Wahnwirklichkeit die einzige Wirklichkeit für den Betroffenen ist. Er ist in seiner Wahnwelt gefangen. Das ist eine sehr schwierige Situation für alle Beteiligten.
Manchmal können sogar Wahn und Realität nebeneinander bestehen, ohne sich dabei zu stören. Damit lebt der Betroffene in zwei Welten: seiner Wahnwelt und der Wirklichkeit. Manchmal fließt auch alles ineinander. Das ist noch quälender für alle Beteiligte.

Man kann immer wieder folgende Ausgestaltungen des Wahns unterscheiden: Beeinträchtigungswahn, Verfolgungswahn, Bestehlungswahn, Beziehungswahn, Untergangswahn, Fremdbeeinflussungswahn, wahnhafter Identitätswandel, Heilswahn, Weltverbesserungs- bzw. Welterneuerungswahn, Allmachtswahn, Abstammungswahn, hypochondrischer Wahn (Krankheiten), nihilistischer Wahn (nichts sein), Krankheitswahn, Verarmungswahn, Schuldwahn, Verdammungswahn, Größenwahn, Liebeswahn, Schwangerschafts- bzw. Mutterschaftswahn, Reichtumswahn, wahnhafte Rollenerhöhung, Begnadigungswahn, Unschuldswahn, Querulantenwahn, Eifersuchtswahn, Bedrohungswahn, wahnhafte Situationsumdeutung u. a.
Der Wahn ist häufig ein Phänomen einer schizophrenen Erkrankung. Er kann aber auch Patienten mit einer endogenen Depression heimsuchen. Dort ist der Wahn allerdings depressiv getönt, der Betroffene fühlt sich vor allem selber schuldig. Beispiele: Verarmungswahn, hypochondrischer Wahn (z.B. körperliche Beschwerden), Schuld- und Versündigungswahn u. a.. Beim Schädel-Hirn-Unfall und bei einer Vergiftung kann es ebenfalls zu psychotischen Folgen mit Wahnzuständen kommen. Diese sind allerdings kurzfristig und nicht so ausgeprägt. Ähnliches gilt für weitere wahnhafte Störungen, die man dann besser als wahn-motivierende Situationen bezeichnet: z.B. bei der Alzheimer-Demenz mit einem Bestehlungswahn, beim Eifersuchtswahn im Rahmen des Alkoholismus, bei Intoxikation durch bestimmte Rauschdrogen (z.B. Haschisch, LSD, Kokain), gelegentlich auch im Rahmen politischer Verfolgung und vor allem Einzelhaft u. a.
Wie bereits benannt handelt es sich um eine schier unfassbare Situation mit der Möglichkeit überraschender Reaktionen seitens des Kranken bis hin zum abrupten Abbruch des Kontaktes. Kein Wunder, dass man beim Umgang mit Wahnkranken viele Fehler machen kann. Aufmerksam zuhören, nicht werten, kein Befremden erkennen lassen oder gar schroffe Ablehnung signalisieren. Vor allem nicht lächerlich machen (auch nicht in Form eines abwertenden Schmunzelns). Für den Betroffenen ist sein Wahn Realität. Die beste Einstellung ist deshalb das interessierte, neutrale Zuhören, das weder bestätigt noch in Abrede stellt. Ernstnehmen heißt noch lange nicht zustimmen. Doch wer den anderen – in welcher Form auch immer – unmöglich macht, indem er seine subjektive Realität in Frage stellt, kann auch nicht helfen. Fühlt sich der Betroffene verstanden und damit gut aufgehoben, kann man ihn ggf. für eine medikamentöse Therapie gewinnen. Ohne Medikamente ist der Wahn nicht zu beeinflussen.