Ernährung bis zuletzt?
„Dann wollen sie also, dass ihr Vater stirbt“, sagte der Arzt mit hochgezogenen Augenbrauen, mehr feststellend als fragend, als mein 93-jähriger Vater nach einem Schlaganfall im Krankenhaus lag. Einige Tage nach dem Vorfall hatten sich leichte Schluckstörungen eingestellt, und der professionelle, ärztliche Rat war eindeutig: Ab ins Heim und das mit einer PEG-Sonde. Statistisch gesehen war das vielleicht eine angemessene Empfehlung. Meine 82-jährige Mutter würde kaum in der Lage sein, meinen Vater über längere Zeit zu pflegen, und ich als einziges Kind, freiberuflich … Sprechen konnte mein Vater nicht mehr und ob er entscheidungsfähig war, darüber bestand Uneinigkeit bei den konsultierten Ärzten.
Nach einem ausführlichen Telefonat mit dem örtlichen Hospiz hatten meine Mutter und ich uns jedoch anders entschieden. „Will ich, dass mein Vater stirbt?“, hatte ich den geriatrischen Pflegeexperten gefragt und er lachte. Wie gut das tat in der Schwärze der Situation, die sich wie Blei auf meine Schulter legte. „Selbstverständlich nicht“, sagte er dann. „Aber was soll das bringen, wenn ihr Vater im hohen Alter bettlägerig ist, nicht mehr aufstehen und sprechen kann, Katheter und Windeln benötigt und nun auch nicht mehr selbst essen soll?“
„Mut und Kompetenz“ sind die Voraussetzungen für das Thema des diesjährigen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin: „Qualität und Miteinander“. Qualität in der Hospiz-und Palliativversorgung lässt sich nicht durch Standards allein erreichen und auch die Professionalisierung, in vielen Fällen hilfreich, kann den Mut nicht ersetzen, den es braucht, das Ende des Lebens anzusprechen. In der Medizin ist dieser Mut verloren gegangen – „Sie können nicht an später denken, wir müssen uns für den Moment entscheiden“, hatte der Arzt unwillig auf meine Frage geantwortet, was denn die therapeutische Konsequenz einer PEG-Sonde wäre. Die Wahrheit aber war: Er musste sich für den Moment entscheiden, solange unser Vater auf seiner Station lag. …
Der Deutsche Bundestag hat im vergangenen November [2015] mit großer Mehrheit das Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland beschlossen … Die Notwendigkeit, sich mit dem Sterben zu befassen, ist also in der Politik angekommen – fast 50 Jahre, nachdem Cicely Saunders in London das St. Christopher‘s Hospice gründete.
Die strukturelle Einbindung von „Palliativ Care“ wird die Kompetenzen fördern und die fachlichen Qualitäten verbessern und in einer Art osmotischem Prozess hoffentlich auch die Krankenhausroutine durchdringen. Sie kann aber nicht den individuellen Mut und die Authentizität ersetzen, wenn es darum geht, eine Entscheidung zu treffen, die einem Menschen gerecht werden soll, dessen Schicksal Behandlungsrichtlinien nur notdürftig abdecken können. Hier kommt das „Miteinander“ ins Spiel, das Kommunikative am Lebensende, das Finden einer Entscheidung, die schon lange im Raum steht, aber trotzdem erst benannt werden muss, ausgesprochen, laut oder leise, auf jeden Fall erleichternd. …
Ein Zurück zum „Wohnzimmer“ von Cicely Saunders, wo Sterbende, Angehörige und das Krankenhaus-Team bei einer „nice cup of tea“ zusammensitzen, das gibt es nicht mehr. Die Palliativmedizin hat entscheidende Fortschritte gemacht, die der Komplexität der alternden Gesellschaft versuchen gerecht zu werden. Denn der Prozess der Morbidität und ihrer vielen Fragestellungen beginnt, genau betrachtet, viel früher, dann, wenn Menschen noch lange nicht sterben wollen. Und am Lebensende sind sie dann oft schon so erschöpft, krank und eingeschränkt, dass sie kaum mehr in der Lage sind zu kommunizieren.
Mut ist trotzdem noch immer gefragt – der Mut auszuhalten, was man nicht versteht. Der Mut, nach den Konsequenzen zu fragen, die man eigentlich nicht hören will. Der Mut, jemanden zu Hause zu pflegen, der das wollte – auch wenn man Angst davor hat. Das Rasseln zu hören und nicht davonzulaufen. Eine Hand zu halten, die nicht mehr reagiert. Ein Angehörigengespräch zu führen, das den Tod in Aussicht stellt.
„Mut und Miteinander“ wäre deshalb – in freier Kombination – mein persönliches Lieblingsmotto für diesen Kongress. Denn alle Menschen, die in einem Sterbeprozess eine Rolle haben, brauchen ihn, unabhängig davon, ob sie Profis oder Laien sind. Sie sind immer und jedes Mal mit ihrer eigenen Endlichkeit konfrontiert wie mit dem Wunsch helfen zu können, wo vielleicht schon längst andere Kräfte am Werk sind, die stärker sind als wir.
[Zeitschrift für Palliativmedizin, September 2016, Dr. rer.pol. Petra Thorbrietz]