Psychologie des Verbrechens

Thema des Monats Oktober 2011

„Der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik hat seine Anschläge mit mindestens 92 Toten bei Verhören als „grausam, aber notwendig“ bezeichnet. Kurz vor der Bombenexplosion im Osloer Regierungsviertel und dem Massaker in einem sozialdemokratischen Jugendferienlager hatte er angeblich in einem 1500 Seiten starken „Manifest“ Terroraktionen zur „Rettung Europas vor dem Kulturmarxismus und der Islamisierung“ angekündigt, wie der TV-Sender NRK in Oslo berichtete.“
(Süddeutsche Zeitung 24.07.2011). Letztlich wurde die Zahl der Opfer auf 76 Menschen nach unten korrigiert, was aber an der Grausamkeit der Tat nichts ändert.

Angesichts solcher und ähnlicher Verbrechen ist man erst mal sprachlos. Wie kann ein Mensch so etwas tun? Töten um des Tötens willen? Wie verblendet kann man sein? Man kann aber auch anders fragen: Inwieweit ist menschliches Handeln biologisch festgelegt (determiniert)? Sind wir frei, uns für oder gegen das Unrecht zu entscheiden? Ist das krank? Wenn ja, wie kann man das dann bestrafen?

Gleichzeitig erzeugen diese Gedanken aber Widerwillen. Wir brauchen einen Schuldigen und wir wollen, dass er bestraft wird, dass er für seine Taten zur Verantwortung gezogen wird.

Dennoch kommt man nicht umhin festzustellen, dass viele Täter auch Opfer sind. Das soll die Tat in keinster Weise entschuldigen. Aber solche Täter sind oft Opfer einer neurobiologisch bedingten Störung der Impulskontrolle, Opfer von traumatischen Erfahrungen, Opfer emotionaler Vernachlässigung. Schuldfähig bleibt aber, wer ein Unrechtsbewusstsein hat und sich theoretisch hätte beherrschen können (zitiert nach dem Aachener Psychiater Henning Saß).

Mein Leserbrief an die Zeitschrift Gehirn&Geist im Spektrumverlag wurde am 29.08.2011 wie folgt beantwortet: „Das Verhalten eines Menschen hinterlässt Spuren im Gehirn, die dort zu strukturellen und funktionellen Veränderungen führen können. So lässt sich nach neuen Erkenntnissen zum Beispiel nach wiederholtem Spielen von gewalthaltigen Computerspielen eine Veränderung in der Hirnaktivität nachweisen, die mit einer geringeren Hemmschwelle, Gewalt auszuüben, einhergeht (Engelhardt in Journal of Experimental Social Psychology, im Druck). Am wahrscheinlichsten ist wohl eine Interaktion oder gar ein sich wechselseitig verstärkender Einfluss …: Die Biologie (z.B. Genvarianten, die mit bestimmten Besonderheiten im Gehirn einhergehen) prädisponiert für Gewalt und andere Formen von Kriminalität, aber in der Regel bedarf es zusätzlich ungünstiger Umweltbedingungen (Misshandlung, Vernachlässigung, schlechte Vorbilder …), die wiederum auf die Hirnaktivität zurückwirken, etc.“ Prof. Stephan Schleim von der Universität Groningen ist hinsichtlich der Aussage, das Gehirn legt alles fest, sehr skeptisch. Er schrieb mir: „Das Gehirn lege alles fest. Allerdings erwidere ich dem, dass wir erstens noch für keine psychische Störung eine genaue Gehirnursache angeben können – die etablierten diagnostischen sind alle Verhaltens- und Erlebniskriterien und werden es auf absehbare Zeit auch noch bleiben – und zweitens Verhaltensdispositionen inklusive Verbrechen so komplex sind, dass ich die Vorstellung, dies alles im Gehirn gemäß der Logik „Screene and Intervene“ erkennen und behandeln zu können, für sehr naiv halte.“

Neben diesen Überlegungen lohnt ein Blick ins Gesetz. Im §211 StGB steht: Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder aus anderen niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeinschaftlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet. Wer einen Mord begeht, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Der §212 StGB beschreibt den Totschlag. Einen Totschlag begeht, wer vorsätzlich einen anderen Menschen tötet, ohne eines der Mordmerkmale zu erfüllen. Er wird mit einer Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren bestraft.

Psychiater beschreiben immer wieder das Störungsbild „maligner Narzissmus“. Dabei handelt es sich um eine „Mischung aus egoistischen und antisozialen Persönlichkeitszügen. Auch Zurückweisung oder Erniedrigung können einem Narzissten Anlass geben, in einer „selbstgerechten Wut“ zu töten, um sein übersteigertes Ego zu schützen. Nach der Tat versucht er, sie zu leugnen, zu rationalisieren oder die Schuld dem Opfer zuzuschreiben.“ (Prof. Andreas Marneros, Psychiatrie in Halle-Wittenberg).

Psychopathen mangelt es an Empathie, Furcht und Moralempfinden. Gesunde Menschen können nachempfinden, was andere fühlen, weil sie vergleichbare neuronale Schaltkreise aktivieren, wenn sie deren Freude oder Leid wahrnehmen – beinahe so, als würden sie diese Emotionen selbst erleben. Anders ein Psychopath: Die für Empathie notwendigen Spiegelneurone seien bei ihm weniger aktiv, … Der Psychopath kann zwar sehr gut die Emotionen anderer Menschen lesen, koppelt diese Erkenntnis aber von seinen eigenen Gefühlen ab.“ (Neurowissenschaftlerin Harma Meffert, Universität Groningen).

Viele renommierte Forscher glauben, dass Menschen mit einer schweren Form der Psychopathie heute noch unheilbar sind. Allerdings gibt es auch andere Stimmen, die zuversichtlich sind, wenn man die Betroffenen schon in jungen Jahren für eine Therapie gewinnen könnte.

Ist denn nun ein Mensch mit antisozialer Persönlichkeitsstörung (wie man den Psychopathen offiziell benennt) trotzdem für sein Handeln selbst verantwortlich? Prof. Saß, Direktor des Universitätsklinikums Aachen und Präsident der Europäischen Psychiatergesellschaft beantwortet diese Frage wie folgt: „Das ist eine vieldiskutierte Frage. Das Grundprinzip für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft lautet, dass jeder Erwachsene für sein Handeln verantwortlich ist. Aber wenn er eine gravierende psychische Störung hat, welche die Einsicht oder die Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt oder gar aufhebt, dann gilt die Verantwortlichkeit bzw. die Schuldfähigkeit als gemindert oder aufgehoben. Psychische Phänomene lassen sich nicht so exakt bestimmen wie etwa ein Bremsweg, sondern am ehesten durch Vergleiche erfassen: Neigt ein Proband zu diesem oder jenem Verhalten mehr als der Durchschnitt? Den Prototyp von Schuldunfähigkeit finden wir in einer akuten, voll ausgeprägten Psychose. Z.B. ist ein Täter schuldunfähig, wenn ihm Stimmen befehlen, seine Eltern zu töten, da sie vom Teufel besessen seien. Wenn die Auswirkungen einer Persönlichkeitsstörung auf Erleben und Verhalten vergleichbar sind mit denen einer gravierenden psychischen Erkrankung, hat das Konsequenzen für die Schuldfähigkeit. [Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung] gelten in aller Regel als schuldfähig. Nur in wenigen Fällen, vor allem beim Vorliegen weiterer Störungen, sieht man sie als vermindert schuldfähig an. Unser Rechtssystem mutet diesen Menschen zu, dass sie sich beherrschen und die Gesetze einhalten. Wenn immer mehr Faktoren zusammenkommen, dann muss man irgendwann die Prognose stellen, dass ein Mensch wahrscheinlich zu gefährlich ist, als dass man ihn wieder frei lassen könnte. Es gibt aber weder einen isolierten noch einen kombinierten neurobiologischen Befund, aus dem sich die Prognose sicher ableiten ließe. Naiven biologistischen Hoffnungen möchte ich da entgegentreten. Entscheidend ist eben nicht die biologische Struktur, sondern deren Wirkung auf Erleben und Verhalten. Und das lässt sich nicht am Hirnscan ablesen.“ Die Redakteurin fragte in dem Interview nach vorbeugenden Möglichkeiten. Prof. Saß antwortete wie folgt: „Wenn das Kind schon stark auffällig ist, wird es für die Eltern außerordentlich schwierig, Einfluss zu nehmen. Dann sollten sie sich am besten professionelle Hilfe suchen. Angehörige können aber einer solchen Entwicklung vorbeugen: sich Zeit fürs Kind nehmen, so dass es sich geborgen und sicher fühlt, für eine gewisse Tagesstruktur und regelmäßigen Schulbesuch sorgen, das Umfeld des Kindes beobachten und darauf hinwirken, dass es nicht die ganze Zeit mit Gewaltvideos und Computerspielen verbringt.“

Rund jedes 4. Gewaltverbrechen in Deutschland wird unter Alkoholeinfluss verübt. Die fatale Verbindung zwischen Alkohol und Gewalt offenbart sich dabei nicht nur im Verhalten der Täter. Auch Opfer, die beispielsweise durch Beleidigungen einen Angriff provozieren, haben oft getrunken. Selbst wenn man mit Sicherheit wüsste, dass Alkoholgenuss einer Gewalttat vorausging, wäre nicht auszuschließen, dass jemand zuerst den Entschluss fasste, Randale zu machen, und erst danach zur Flasche griff, um sich den nötigen Mut dafür anzutrinken. Dann wäre der Alkohol ein Hilfsmittel, aber nicht Ursache der Aggression. In Deutschland gilt man bis 2,0 Promille als voll schuldfähig. Zwischen 2,0 und 3,0 Promille ist man in der Regel vermindert schuldfähig und über 3,0 Promille in der Regel schuldunfähig.

2005 wurden in Deutschland rund 8100 Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung angezeigt sowie 14000 Mal ein sexueller Missbrauch von Kindern. Einige der Täter kamen in eine psychiatrische Anstalt, die meisten verbüßten eine Freiheitsstrafe im Gefängnis. Nach 1, 3 oder auch 10 Jahren werden sie wieder entlassen. Dabei gibt es Stimmen, die fordern, alle Sexualstraftäter für immer wegzuschließen. Zwischen 2001 und 2006 hat die öffentliche Hand schon etwa eineinhalb Milliarden Euro für den Neubau von Haftanstalten ausgegeben. 5000 Sexualstraftäter befanden sich zu diesem Zeitpunkt bundesweit in Haft. Ein Gefängnistag kostet etwa 80 Euro, das macht 400000 Euro täglich. Dem gegenüber stehen z.B. 79 Therapiestudien mit fast 11000 Tätern, nach denen die Rückfallquote der unbehandelten Sexualstraftäter mit insgesamt 18 Prozent in der Größenordnung anderer Studien aus Nordamerika und Deutschland lag. Bei den Therapierten sank die Wiederholungsrate auf 13 %, nach einer kognitiv-behavioralen Behandlung sogar auf 7,2 %. Eine kanadische Untersuchung  untersuchte jüngst 534 Sexualstraftäter. Nach mehr als 5 Jahren in Freiheit lag die Rückfallquote bei 3,2 % bei den mit kognitiv-behaviorale Behandlung therapierten, gegenüber 16,8 % bei den Unbehandelten (aus Bernd Wischka, Psychologischer Psychotherapeut, Leiter der sozialtherapeutischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt Lingen). Wörtlich meint Herr Wischka: „Der Wunsch nach Bestrafung der Täter und Schutz der Bevölkerung ist verständlich. Es ist jedoch irrational, zu glauben, die Gefahr durch Sexual- und andere Gewaltdelikte ließe sich durch rigides Wegsperren verringern. Ebenso unrealistisch ist die Vorstellung, jeder Täter könne durch eine psychotherapeutische Behandlung vor einem Rückfall bewahrt werden. Sicher ist jedoch: Therapiemaßnahmen der hier dargestellten Form können erheblich dazu beitragen, die Zahl der Opfer zu verringern.“

Die Thematik ist sicher sehr komplex. Daher habe ich auch sehr viel zitiert und die Spezialisten umfassend zu Wort kommen lassen. Zurückgegriffen habe ich auf die Zeitschrift Gehirn§Geist Dossier, Nr. 2/2010, das im Verlag Spektrum der Wissenschaft erscheint.

Gespannt bin ich auf das Urteil über den norwegischen Attentäter Anders Behring Breivik und die Urteilsbegründung. Ich halte Sie auf dem Laufenden.